Finanzmärkte werden von Stimmungen getrieben – doch jede Stimmung beruht auf einer bestimmten Logik. Diese Logik zu verstehen, ist gerade in sehr unsicheren Zeiten besonders wichtig.
Schon nach einem halben Jahr ist deutlich geworden, dass 2022 aufgrund seiner geopolitischen, makroökonomischen und geldpolitischen Entwicklungen in die Geschichte eingehen wird. Von Shakespeare soll der berühmte Spruch stammen: „Ein Unglück kommt selten allein“. In vielen Bereichen herrscht noch immer eine erhebliche Unsicherheit, so etwa in Bezug auf die künftige Inflationsentwicklung, globale Lieferengpässe, Wirtschaftswachstum, politische Reaktionen und vor allem die Corona-Pandemie.
Wie immer spiegeln die Marktpreise eine Vielzahl von Erwartungen an die weitere Entwicklung wider. Diese Erwartungen können sich in Zukunft selbstverständlich ändern. So ist es beispielsweise möglich, dass die Marktteilnehmer von einer weniger aggressiven Geldpolitik ausgehen als zum jetzigen Zeitpunkt – was sich auf verschiedene Weise auf die Attraktivität einzelner Anlageklassen auswirken würde. Wichtig zu bedenken ist auch, dass Marktpreise auf einer Gesamteinschätzung mehrerer Risiken und nicht nur eines einzelnen Problems basieren.
Was können wir daraus für das Portfoliomanagement ableiten?
Zunächst einmal ist Unsicherheit keine Rechtfertigung dafür, Portfolioentscheidungen aufzuschieben. Auch wenn es schwierig sein mag, die Zukunft vorherzusagen, versucht sich die Marktlogik kontinuierlich an immer neuen Prognosen – und diesen sich ständig verändernden Markterwartungen muss ein Portfolio Rechnung tragen.
Zweitens ist es extrem wichtig, einen Blick über die aktuellen Schlagzeilen hinaus zu werfen.
Denn wenn die Marktpreise das Ergebnis einer Gesamteinschätzung sind, lohnt es sich, die verschiedenen Einflussfaktoren unter die Lupe zu nehmen. Bei einer solch detaillierten Bewertung sollten jedoch sowohl kurz- als auch langfristige Preistreiber berücksichtigt werden.
Zudem bin ich der Meinung, dass wir uns in Bezug auf manche Parameter gar nicht wirklich sicher sein können. Auch wenn sich die Erwartungen an das künftige Zinsniveau zweifelsohne ändern werden, scheint die Ära der Niedrigzinsen endgültig hinter uns zu liegen – wenngleich es sicherlich verfrüht wäre, von einer geldpolitischen „Normalisierung“ zu sprechen. Höhere Zinsen geben Anlass zu einer Neubewertung der relativen Attraktivität verschiedener Anlageklassen. Mit steigenden Zinsen dürfte auch das Interesse an festverzinslichen Wertpapieren als Anlageklasse zunehmen – trotz der Möglichkeit, dass die Ausfallquoten vom derzeit sehr niedrigen Niveau steigen werden. In der Folge könnte sich die These von der vermeintlichen Alternativlosigkeit von Aktien relativieren – ganz auflösen wird sie sich jedoch nicht. Insgesamt fallen die Aktienbewertungen weiterhin positiv aus, die Unternehmen verzeichnen solide Gewinne und unsere Prognosen gehen auf zwölf Monate betrachtet von steigenden Kursen aus – wenn auch mit zwischenzeitlichen Schwankungen.
Die Erwartung an weiter steigende Zinsen wird sich auch innerhalb einzelner Anlageklassen auswirken, etwa auf die relative Attraktivität einzelner Aktienstrategien und Sektoren, wie wir es in den vergangenen Monaten bereits an der Wertentwicklung von „Growth“- und „Value“-Aktien beobachten konnten. Beim Risikomanagement wird ein kurzfristiger Ansatz unabdingbar bleiben. Vor dem Hintergrund eines kurzfristigen Risikomanagements ist es jedoch weiterhin wichtig, diszipliniert zu bleiben, über kurzfristige Marktbewegungen hinaus zu blicken und langfristige Ziele, Asset-Allokation und Anlagethemen fest im Blick zu behalten.
Für eine Zukunftsprognose reicht es selbstverständlich nicht aus, einfach vergangene Entwicklungen heranzuziehen. In zwölf Monaten könnte die Weltwirtschaft vollkommen anders aussehen als heute. Wir sollten jedoch davon ausgehen, dass das makroökonomische Umfeld
und die Situation für Anleger äußerst fragil bleiben werden. Die Erholung wird nicht einfach sein und selbst bei sehr optimistischen Annahmen – etwa einer Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft – wird es noch dauern, bis Probleme wie die Unterbrechung der Lieferketten
behoben sein werden. Große Sorgen mache ich mir weiterhin auch über die sozialen und humanitären Belastungen vieler Länder aufgrund der Pandemie, Inflation oder den ausbleibenden Lebensmittellieferungen aus der Ukraine – diese könnten sich noch verschärfen, bevor es zu Verbesserungen kommt.
Die wichtigste Lektion bleibt aus meiner Sicht: Schieben Sie Ihre Portfolioentscheidungen nicht auf, setzen Sie auf angemessene Risikomanagement-Strategien und behalten Sie Ihre langfristigen Ziele fest im Blick. So können Sie sich durch die zweite Jahreshälfte von 2022 und darüber hinaus manövrieren. Wir freuen uns wie immer darauf, Ihnen dabei Orientierung zu geben.
Christian Nolting
Globaler CIO