Auf der diesjährigen Londoner Kunstmesse Frieze wurde in einer hochkarätigen Expertenrunde um Claudio de Sanctis, Leiter der Internationalen Privatkundenbank und CEO der Region Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA), darüber diskutiert, wie ein neu konzipiertes Wirtschaftssystem den Biodiversitätsverlust stoppen oder gar umkehren könnte.
„Die größten Biodiversitätszerstörer sind du und ich.“ Für alle, die sich Gedanken über die rasante Ökosystemzerstörung machen, treffen diese Worte genau den Kern des Problems. Sie stammen von Dominic Jermey, CVO1 OBE2, dem Generaldirektor der Zoological Society of London (ZSL). Doch es gibt Hoffnung. Regierungen und multilaterale Organisationen haben begonnen, Lösungen zu suchen.
Jermey war zu einer Veranstaltung in der Deutsche Bank Wealth Management Lounge auf der Frieze Art Fair im Londoner Regent’s Park geladen, nur ein paar hundert Meter weit vom Londoner Zoo und dem Forschungsinstitut, das er in seiner globalen Funktion leitet.
Weitere Teilnehmer neben Organisator Claudio de Sanctis, Leiter der Internationalen Privatkundenbank und CEO der Region Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA), waren Sir Partha Dasgupta, Frank Ramsey, emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Cambridge, der die radikalen Erneuerungskonzepte für unsere Wirtschaft zum Schutz der Biodiversität erläuterte, sowie Christian Nolting, Chief Investment Officer bei Deutsche Bank Private Bank, der eine Marktperspektive lieferte. Zunächst jedoch umriss Dominic Jermey die Dimension der Herausforderung, vor der wir stehen.
Warum die Rettung der Umwelt von der Veränderung des menschlichen Verhaltens abhängt
Anhand des ‚Living Planet Index‘ der ZSL versuchen Regierungen und UN, die Situation des Wildtierbestands weltweit einzuschätzen. Im Index wurden 25.000 Populationen wildlebender Säugetiere beobachtet und ein Rückgang der Wildtiervielfalt um 68 Prozent seit 1970 festgestellt.
Dieser „katastrophale Rückgang industriellen Ausmaßes“ geht auf drei Hauptursachen zurück: die menschengemachte Landnutzungsänderung, der menschengemachte Klimawandel und der Raubbau an der Tierwelt. Dominic Jermey zufolge „haben diese drei Ursachen eine Gemeinsamkeit, den Faktor Mensch, d. h., die Biodiversitätskrise lässt sich nur durch verändertes menschliches Verhalten lösen.“
Die schnelle Urbanisierung hat dazu geführt, dass viele Menschen den Bezug zur Natur verloren haben und den Artenverlust gar nicht emotional wahrnehmen. Die Wiederherstellung des Naturbezugs ist daher laut Jermey entscheidend für eine grundlegende Veränderung des menschlichen Verhaltens.
Die Folgen des Biodiversitätsverlusts holen uns ein
Bereits jetzt zeigen sich durch menschliche Eingriffe in die Natur schwerwiegende Folgen – die unmittelbarste unter ihnen ist die Pandemie.
COVID-19 betreffend weist Dominic Jermey darauf hin, dass „solche Krankheiten schon seit Jahrhunderten in Wildtierpopulationen existieren und uns bislang nie behelligt haben.“ Der Grund für das Überspringen auf die Menschen ist die räumliche Nähe zu ihnen ... Wildtiere und Menschen treffen aufeinander, weil Teile des Ökosystems nicht mehr funktionieren und damit kein ökologisches Gleichgewicht mehr herrscht.“
Doch das Verhalten der Menschen führt nicht nur zur Ausbreitung von Zoonosen, sondern bedroht auch Nahrungsketten. Angefangen bei stark dezimierten Fischbeständen bis hin zur exzessiven Nutzung von Pestiziden, die Bestäuber ausrotten. Und nicht zuletzt wirkt sich die Art und Weise, wie wir mit der Natur interagieren, auf unsere Gesundheit, unsere Existenzgrundlage und unseren Geldbeutel aus.
Warum wir Ökosysteme neu denken müssen – als Naturkapital
Nach Meinung von Sir Partha Dasgupta, dessen Bericht „Ökonomie der Biodiversität“ Anfang 2021 Schockwellen durch die Regierungen und multilateralen Institutionen sandte, können wir das Problem lösen, indem wir die Ökonomie in ganz neuen Kategorien denken.
Er beschreibt Ökosysteme als Naturkapital, das wir mit dem Humankapital und dem produzierten Kapital in Einklang bringen müssen. „Bis jetzt halten wir die Natur aus der wirtschaftlichen Theorie und Praxis heraus, weil sie in den Wirtschaftsmodellen der Regierungen überhaupt nicht vorkommt. Oder wir bringen die Natur dann ins Spiel, wenn wir über sie sprechen wollen – wie zum Beispiel beim Klimawandel – und schließen sie aus, wenn wir nicht über sie sprechen wollen. Doch diese Willkür steht uns nicht zu.“
Betrachten wir die Humanökonomie als eingebettet in die Natur, folgert Dasgupta, so „wird dies unser Verständnis der zukünftigen Möglichkeiten für die globale Wirtschaft grundlegend verändern.“
Vision einer Welt, in der wir für „globale öffentliche Güter“ bezahlen
Ausgehend von der Idee, Ökosysteme als Naturkapital einzustufen, nennt Sir Partha Ozeane und Regenwälder als Beispiele für „globale öffentliche Güter“. Aktuell jedoch fügen wir diesen Gütern unermesslichen Schaden zu, ohne jemals dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Stellen wir uns deshalb vor, ihre Nutzung und ihr Schutz würden bezahlt.
Im Falle der Ozeane hieße das zum Beispiel, die kostenpflichtige Nutzung der Schifffahrtswege würde viele Milliarden jährlich generieren und zugleich den Nutzungsdruck auf die Ozeane reduzieren. Als weiteres Beispiel wäre denkbar, dass Länder mit Regenwald dafür bezahlt werden, Abholzungen zu verhindern.
Auf nationaler Ebene kommt dieses als „Bezahlung für Ökosystemdienstleistungen“ bekannte Konzept mehr und mehr zur Anwendung. In Costa Rica, China und Großbritannien beispielsweise werden Bauern für die Dienstleistungen bezahlt, die ihr Land produziert. Auf globaler Ebene angewendet, könnte dies einen grundlegenden Wandel herbeiführen.
Erste Anzeichen einer Marktreaktion auf die Umweltzerstörung
Makroökonomisch ist zu beobachten, dass nach und nach neue Haltungen eingenommen werden und die Naturdegradation neuerdings in die BIP-Analysen einfließt.
Christian Nolting erklärt dazu: „Wird etwas zerstört, so geschieht dies ohne Abzug vom BIP, und wird etwas neu hergestellt, erhöht sich das BIP. An sich eine positive Sache. Jedoch bedeutet sie in der Konsequenz, dass auch die Zerstörung der Natur nicht vom BIP abgezogen wird. Aufgrund des damit verbundenen Risikos sollte sie das aber. Und ich denke, in diesem Punkt vollzieht sich gerade ein Wandel.“
Mikroperspektivisch betrachtet sind mehr Daten erforderlich, um die Vorgänge wirklich zu verstehen. Die gute Nachricht dabei: Organisationen wie die Task Force on Climate Change oder die Task Force on Nature Related Financial Disclosure machen uns vor, wie aussagekräftige Daten erhoben und in Maßnahmen umgesetzt werden können.
Je besser unsere Daten sind, desto schneller können wir innovative Finanzprodukte entwickeln, die Ökosysteme schützen und zugleich Einkünfte erzielen.
Wie wir dem Biodiversitätsverlust durch positive Schritte entgegenwirken können
Zum Ende der Diskussion ermunterte Dominic Jermey das Publikum mit dem positiven Ausblick, dass wir es in der Hand haben, die Dinge zu ändern: „Handeln Sie jetzt, werden Sie aktiv! Denn Sie können etwas bewegen. Durch Ihre Stimme bei Wahlen. Durch Ihre Investitionen und die ESG-Investitionen der Unternehmen, in die Sie investieren.“
Christian Nolting schloss sich dem an und wies darauf hin, dass die ESG-Regulierung kommen wird und Unternehmen, die nicht entsprechend reagieren, dies in Form von Preisdruck zu spüren bekommen werden: „Wir werden sie verkaufen, sie sind raus!“
Abschließend rief Sir Partha das Publikum aus urbanen Wohngegenden dazu auf, sich zusammen mit den lokalen Gemeinschaften für mehr Grünflächen einzusetzen: „Das ist an vielen Orten der Welt möglich – und wird bereits getan.“
Mit besonderem Dank an unsere teilnehmenden Experten: Dominic Jermey CVO OBE, Generaldirektor der Zoological Society of London (ZSL); Professor Sir Partha Dasgupta; Frank Ramsey, emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Cambridge; Christian Nolting, Globaler Chief Investment Officer bei Deutsche Bank Private Bank.
Video: Experten-Gesprächsrunde (Englisch)
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