Wir sehen uns gegenwärtig mit einem Marktversagen konfrontiert, das darauf basiert, dass wir den Wert des Naturkapitals, von dem wir alle abhängen, nicht berücksichtigen. Da wir seinen systemischen Wert nicht ermitteln, fragen wir dementsprechend auch nicht danach, ob wir der Beschaffenheit und Vitalität unseres Planeten nicht irreparablen Schaden zufügen, wenn wir seine Ökosystemdienstleistungen über Gebühr in Anspruch nehmen.
Die Gesundheit des globalen Naturkapitals ist ein Faktor, den wir jetzt deutlich ansprechen und bei all unseren finanziellen Entscheidungen berücksichtigen müssen. Wir müssen verstehen, welche Auswirkungen unser Handeln auf den gesamten Bestand an Naturkapital sowie auf die Fähigkeit der Natur hat, diesen Bestand selbst wieder aufzufüllen. Wirtschaftlich gesprochen gibt es negative Externalitäten, die über entsprechende Rechnungslegungsansätze internalisiert werden müssen.
Die Neubewertung der Natur bedeutet nicht, dass die Ökonomie neu erfunden werden muss
Dazu müssen wir die Ökonomie nicht neu erfinden, sondern lediglich erweitern und verbessern. Wir haben nämlich vergessen, der nicht-finanziellen Dimension der Wirtschaft entsprechenden Platz einzuräumen. Bis jetzt dachten wir: „Das, was die Natur uns liefert, ist kostenlos.“ Das war jedoch eine Illusion, die darauf basiert, dass wir den Faktor Natur bisher chronisch unterschätzt haben. Die Art und Weise, wie wir bisher agiert haben, lässt sich als Governance-Versagen und falsche Anwendung der Wirtschaftslehre interpretieren.
Die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor Oström (1933–2012) zeigte mit ihrer Forschung in den 1990er Jahren, dass der Kampf gegen die Umweltzerstörung nicht einzelnen Regierungen – bzw. einzelnen Unternehmensbereichen – überlassen werden kann. Das Managen unserer Allmenderessourcen erfordert eine solche Vielzahl an Maßnahmen, dass ein polyzentrischer Ansatz verfolgt werden muss, bei dem zentrale Entscheidungen so nah wie möglich am Ort des Geschehens durch Zusammenarbeit der betroffenen Gemeinschaften getroffen werden müssen.
Dieses Modell könnte auch auf Unternehmen Anwendung finden. Die Tätigkeit eines Unternehmens wirkt sich an seinem jeweiligen Standort auf die dortige Umwelt aus. Dies muss es in seine für diesen Standort zu treffenden Entscheidungen einbeziehen. Das kann es aber wiederum nur dann, wenn es den Wert der natürlichen Vermögenswerte ermitteln kann, von denen das Unternehmen und die lokale Gemeinschaft abhängen.
Naturkapital und Ökosystemdienstleistungen sind zu berücksichtigen
Akademiker wie Professor Ian Bateman, Umweltökonom an der University of Exeter in Großbritannien, erforschen Möglichkeiten, wie sich Naturkapital – z. B. Ozeane, Landlebensräume und die von ihnen unterstützte und geförderte Biodiversität – ein monetärer Wert zuweisen lässt. Die genannten Assets stellen Ökosystemdienstleistungen bereit, wie die Umwandlung von Kohlenstoff in Sauerstoff sowie Holz, Nahrungsmittel und atmosphärische Kühlung.
Diese Leistungen lassen sich mit Maßeinheiten wie Tonnen oder Grad Celsius erfassen, für die wiederum ein Preis festgelegt werden kann. Dadurch lässt sich ermitteln, wo Naturkapital in seiner Fähigkeit, Ökosystemdienstleistungen bereitzustellen, eingeschränkt ist – z. B. durch Überbeanspruchung – und dies ebenfalls mit einem Preis versehen.
Die Anwendung derartiger Verfahren auf die Natur in großem Maßstab ist komplex, aber nicht unmöglich. Letztendlich arbeiten wir seit mehr als 30 Jahren daran. Das System of Environmental-Economic Accounting (SEEA, „System der umweltökonomischen Gesamtrechnungen“) wurde von der UN im Jahr 1993 vorgelegt und 2012 schließlich als offizieller statistischer Standard anerkannt. Mit Hilfe des SEEA können Regierungen und Unternehmen das Naturkapital bei ihren politischen und unternehmerischen Entscheidungen auf allen Ebenen berücksichtigen und auf diese Weise finanzielle und umweltbezogene Risiken mindern.
Die Einbeziehung des Naturkapitals könnte zu nachhaltigeren Entscheidungen führen
So könnte ein Unternehmen beispielsweise beschließen, ein Projekt an einem bestimmten Standort nicht weiter zu verfolgen, wenn dessen Auswirkungen auf das Naturkapital dieses Standorts potenzielle Gewinne in Verluste verwandeln würden. Dabei könnte es vorab ermitteln, welche langfristigen Kosten eine Fortsetzung des Projekts nach sich ziehen würde und diese einrechnen, und zwar nicht nur in Form möglicher Geldstrafen für Umweltverschmutzungen, sondern auch in Form differenzierterer Parameter wie der Unzufriedenheit der lokalen Gemeinschaften und daraus resultierender Probleme bei der Rekrutierung von Arbeitskräften. In einem System, in dem derartige Standards breite Anwendung finden, müsste jedes Unternehmen, das für ein Projekt Finanzmittel beschaffen muss, nachweisen, dass es das Naturkapital berücksichtigt hat.
Unglücklicherweise wird das SEEA nicht allgemein angewendet. Seine Nutzung ist immer noch eine politische und keine wirtschaftliche Entscheidung. Die zugrunde liegende Idee gewinnt jedoch mittlerweile deutlich an Dynamik. So veröffentlichte die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) im Juli einen Bericht, in dem 50 Methoden und Ansätze zur Bewertung der Natur analysiert und herangezogen wurden, um Tools und Leitlinien für politische Entscheidungsträger zu entwickeln.
Auch der private Sektor erkennt zunehmend, dass er seinen Beitrag leisten muss, um das Naturkapital, von dem wir alle abhängen, zu bewahren. Mit den richtigen Standards zur Bewertung der Natur und der von ihr bereitgestellten Ökosystemdienstleistungen würde Unternehmen deutlich vor Augen geführt, weshalb ihre finanzielle Resilienz davon abhängt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Markus Müller ist ESG-Chef-Anlagestratege & Globaler Leiter des Chief Investment Office der Deutsche Bank Privatkundenbank.
Bildunterschrift und Bildnachweis:
Combustion, 10. März 2017, South Sydney, Australien. © Ray Collins
Dieser Artikel erschien erstmals in der Herbst/Winter-Ausgabe 2022 des LUX-Magazins. Diese Ausgabe ist die vierte einer Reihe von Beilagen der Deutschen Bank Wealth Management/LUX über unsere Ozeane und ihre Bedeutung für das ökologische und wirtschaftliche Wohlergehen des Planeten.