Künstler Andrea Galvani spricht über die wissenschaftliche Methodik, die ihn inspiriert, und sein jüngstes Buch Monograph, das ein ganzes Jahrzehnt seiner Arbeit dokumentiert.

 

Für den Künstler Andrea Galvani ist es die Regel, an Grenzen zu gehen und diese zu überschreiten. Nur wenigen Menschen ist es gelungen, mit der Kamera festzuhalten, wie ein Militärjet die Schallgrenze durchbricht – Galvani hat dieses Ereignis in einer erhabenen Fotoserie festgehalten, welche Teil der Sammlung der Deutsche Bank war und in der Deutsche Bank Wealth Management Lounge an der Frieze New York 2017 präsentiert wurde. Die präzise Planung, Forschung und Wissenschaft, die in dieses Projekt eingeflossen ist, wie bei allen Projekten von Galvani, ist ein Markenzeichen seiner Praxis. Die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft, die sein Lebenswerk inspiriert hat, zeigt sich in seiner neuen Monographie, die sich zwischen Künstlerbuch, wissenschaftlicher Zeitschrift und Enzyklopädie bewegt (hier verfügbar).

 

Galvani, der abwechselnd in New York und Mexiko lebt – und überall sonst, wohin ihn seine Arbeit verschlägt –, hatte in den letzten Jahren einen vollgepackten Terminkalender.
Was also treibt Galvani dazu an, immer neue Herausforderungen anzugehen?  "Die einzige Möglichkeit, ein Limit zu verlängern, ist, es zu überschreiten", sagt er.

 

Suzie Bliss: Sie haben kürzlich Ihre erste Monographie veröffentlicht, die im September des Jahres weltweit erschienen ist und eine Rückschau über die letzten zehn Jahre Ihrer Arbeit liefert. Gab es einen bestimmten Grund, weshalb Sie dieses bedeutende Buch gerade jetzt zusammengestellt haben?

Andrea Galvani: Den Anstoß zu diesem Buch gab meine erste Mid-Career-Retrospektive in Europa im Mart Museum in Italien: Andrea Galvani Selected Works 2006 | 2016. Ursprünglich hatten wir vor, eine ausstellungsbegleitende Publikation herauszubringen, doch als ich dafür Material zusammenstellte, wurde mir klar, dass es den Rahmen eines Ausstellungskatalogs sprengen würde. Bei der Durchsicht von Tagebüchern, Aufzeichnungen, Recherchen und Arbeiten, die sich in mehr als zehn Jahren meiner Karriere angesammelt hatten, stieß ich auf so vieles, das ich mit der Öffentlichkeit teilen wollte – eine etwas andere Facette meiner Tätigkeit, die noch nie jemand richtig zu Gesicht bekommen hatte. Ich wollte das Grundgerüst sichtbar machen, die verborgene innere Struktur, auf die sich meine Arbeit stützt und durch die sie erst zum Leben erweckt wird. Ich hatte zwar eine klare Vorstellung davon, wie die Monographie aussehen sollte, wusste jedoch gleichzeitig, dass sie im Zuge der Arbeit daran auf ganz bestimmte Weise von selbst Gestalt annehmen würde. Das Werk veränderte sich ständig und entwickelte sich weiter, und ich musste dafür sorgen, dass dieser Prozess ganz natürlich und organisch ablaufen konnte. Dazu arbeitete ich mit einem fantastischen Team bei Mousse Publishing zusammen; wir sammelten zusammen Ideen und probierten vieles aus. Diese spannende Reise dauerte fünfzehn Monate, bis wir schließlich soweit waren. Wir hatten die Idee, ein Porträt mit verschiedenen Facetten zusammenzustellen: Es ist mehr als ein Künstlerbuch, nämlich gleichzeitig auch ein wissenschaftliches Protokoll und eine historische Enzyklopädie. So ist eine Monographie entstanden, die nicht nur Vergangenheit und Gegenwart meiner Arbeit, sondern auch die Zukunft, einen Ausblick auf meine Projekte enthält. Wenn man sich erneut mit älteren Konzepten befasst, kommen neue Ideen zutage — mittlerweile sehe ich manches aus meiner Vergangenheit in einem anderen Licht. In dieser Hinsicht war das Buch sehr ertragreich und hat viel hervorgebracht.

 

SB: Würden Sie im Rückblick auf Ihre früheren Projekte Ihrem jüngeren Ich raten, bestimmte Dinge anders zu machen?

AG: Ehrlich gesagt hat sich die Art und Weise, wie ich meine Arbeit angehe, nicht wesentlich geändert. Es stimmt, dass die äußeren Umstände anders aussehen: Ich bin in die Vereinigten Staaten gezogen, habe Studios in New York und Mexiko-Stadt eröffnet, ich bin international tätig, reise viel und verfüge über mehr Ressourcen. Im Laufe der Zeit hat sich eine engere Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ergeben, ich habe mehr Menschen um mich, und bin ganz eindeutig beschäftigter. Doch im Grunde geht es seit jeher um die gleiche bahnbrechende Vision, Obsession, Neugier und Leidenschaft. Ich vertraue schon immer auf meinen Instinkt, auf mein nomadisches Wesen, das dafür sorgt, dass ich mir selbst treu bleibe. Ich glaube, dass ist das Wichtigste für einen Künstler – beziehungsweise für jeden Menschen.

 

SB: Die Deutsche Bank zeigte Ihre Arbeit in einer ambitionierten Soloausstellung in unserer Lounge auf der Frieze New York 2017 – können Sie uns etwas mehr über diese Ausstellung berichten?

AG: Die Show in der Deutsche Bank Lounge war als Überblick über meine multidisziplinäre Arbeit gedacht, zu der Fotografie, Video, Zeichnungen, Skulpturen und Neoninstallationen zählen. Gemeinsam mit Mary Findlay [Internationale Kuratorin der Abteilung Kunst, Kultur & Sport der Deutschen Bank], der hervorragenden Kuratorin der Show, wollten wir eine großzügige Einführung in meine Arbeit liefern und meine Leidenschaft für Forschung, Wissenschaft, Technologie und kollektives Handeln präsentieren. Mit dem Ergebnis bin ich wirklich sehr zufrieden. Die Zusammenarbeit mit dem Team der Deutschen Bank war wunderbar; die Erkundung der zentralen Konzepte, auf denen meine Arbeit beruht, wurde optimal gefördert. In der Regel ist der Rahmen einer Kunstmesse nicht immer gut geeignet, um in die Breite und in die Tiefe zu gehen, doch die Deutsche Bank bot eine ganz besondere Plattform. Es war mir ein Vergnügen, auf ein so interessiertes Publikum zu treffen und mein Werk in der Stadt zu präsentieren, in der ich auch lebe.

 

Das grundlegende und immer wiederkehrende „Live-Material“, das bei der Show zum Einsatz kam, war Energie in jeglicher Form — in ihren spektakulären und manchmal brutalen Mutationen. Diese natürlichen Kräfte, die meist unsichtbar bleiben, faszinieren mich. Die Ausstellung brachte die Nichtgreifbarkeit von Phänomenen zum Vorschein, die uns umgeben, und wollte aufzeigen, wie Energie eingefangen, verzerrt, zusammengelegt und verändert werden kann: von der Kernfusion hin zur Schallgeschwindigkeit, von elektromagnetischen Feldern hin zur Gestalt supermassereicher schwarzer Löcher.

 

SB: Kürzlich hatten Sie auch eine Soloausstellung bei The RYDER Projects in London. Können Sie die Idee hinter der Show und ihren spannenden Titel The Universal One erläutern?

AG: The Universal One ist eine standortspezifische Installation, die als Erlebnisumfeld gestaltet ist. Mit den monumentalen Neonskulpturen aus kobaltblauem, flieder- und rosafarbenem mundgeblasenem Murano-Glas sollte eine Lichtimmersion entstehen. Farbe nimmt Gestalt an in einem Raum, den man betreten und ausfüllen kann. Die Ausstellung wurde nach der gleichnamigen Publikation von Walter Russell aus dem Jahr 1927 benannt, in der er seine ureigene Kosmogonie beschreibt, nach der alle Dinge gleich sind und der einzige Unterschied in der Vibration liegt.

 

Ein weiteres entscheidendes Element von The Universal One ist die Performance. Ich habe mit Sängern und Darstellern zusammengearbeitet, die mit der Architektur, den Kunstwerken und der Öffentlichkeit interagierten. Während der Ausstellung bilden Live-Stimmen zu bestimmten Zeiten einen Chor, der sich durch den Raum bewegt und diesen in einen Klanglandschaft verwandelt. Kollektive Rhythmen und individuelle Modulationen dringen durch eine Choreographie aus Bewegungen, die hin und her wabern wie wogende Wellen. Das Werk wird lebendig — die Performance erinnert an ein Ritual. Seit Menschengedenken stellen Kulturen in aller Welt mit Vokalklängen eine Verbindung zum Göttlichen her, sei es durch Gesänge, Mantras, Gebetsrufe, Psalmen oder Loblieder. Die Neonskulpturen illustrieren den Kreislauf der Integration und Desintegration von Materie – die Verbindung zum Göttlichen besteht darin, dass sie die Kräfte beschreiben und erklären sollen, die das Universum schaffen und vernichten, aufbauen und bewegen.

 

SB: Auf der Frieze London im Oktober 2018 haben Sie in der Focus Section ein weiteres erfolgreiches neues Projekt ausgestellt – eine standortspezifische Architektur-Installation aus mathematischen Gleichungen in weißem Neon. Was hat Sie dazu inspiriert?

AG: Dieses Projekt, Instruments for Inquiring into the Wind and the Shaking Earth (2018), benannt nach dem ersten Seismographen des chinesischen Universalgelehrten Zhang Heng aus dem Jahr 132, war als beleuchtete Wolke aus Zahlen konzipiert – Berechnungen, die uns als Bausteine dienen, um die unsichtbaren Kräfte, welche die Wirklichkeit beherrschen, zu verstehen und zu bestimmen. Ursprünglich war es für die Einweihung der Art Basel Cities in der Revolver Galería in Buenos Aires entwickelt worden, später habe ich es für meine Soloausstellung auf der Kunstmesse Frieze neu zusammengestellt, wie Sie bereits sagten. Das Publikum wurde in ein Labyrinth aus Zahlen getaucht und bewegte sich durch ein Arrangement von Strukturen aus weißem geblasenen Glas und Metall, die wie ein Urwalddach von der Decke hingen. Die Installation sollte sich ausdrücklich über den Köpfen befinden und den Gedankenraum einnehmen. Sie verkörpert einen Zustand der Herausbildung, Gegenstände, die sich noch im Werden befinden, bevor sie für uns Wirklichkeit werden, und spielt mit den Themen Erleuchtung, Macht, Abstraktion und Materialisation. Damit ist sie eine Hommage an das menschliche Wissen, ein Monument für Theorien und Versuche zur Transformation und Beherrschung des Unbekannten.

 

SB: In der zeitgenössischen Kunstwelt kommt es nicht so häufig vor, dass sich jemand mit der engen Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft befasst und so umfassende Konzeptforschung betreibt wie Sie. Was hat Sie dazu veranlasst, diesen für Sie so charakteristischen multidisziplinären Ansatz zu verfolgen?

AG: Wie wir die Welt wahrnehmen und uns darin bewegen, ist von Mensch zu Mensch verschieden und richtet sich danach, wie wir uns selbst sehen und was unsere Vorgeschichte ist. Ich glaube, mit einer disziplinübergreifenden Arbeit können wir über uns selbst hinauswachsen, mehr Wissen und Erkenntnisse erwerben und auf menschlicher Ebene Empathie entwickeln. Die Kunst kann genau wie die Physik und Mathematik – und auch die Medizin, das Ingenieurwesen und andere faszinierende Forschungsbereiche – als Brücke dienen, die unsere Sichtweise erweitert und weiterentwickelt, als Plattform, die uns mit anderen und uns selbst verbindet. Die ihr eigenen Subjektivitäten regen uns dazu an, zu hinterfragen, was wir angeblich wissen, fordert uns dazu auf, Alternativen in Betracht zu ziehen, Dinge anders zu sehen, Freude oder Unbehagen zu verspüren und dabei gleichzeitig etwas in unserem Inneren zu öffnen.

 

SB: Welche Pläne haben Sie für 2019?

AG: Seit etwa vier Jahren ist mein Leben unglaublich intensiv und vollgepackt. Ich arbeite und reise ununterbrochen – das ist für mich spannend und anregend und sorgt für reichlich Inspirationen. Jede Ausstellung lässt ein neues Werk entstehen und bestimmt die Richtung, in die meine nächste Forschungsarbeit geht. So sind viele Projekte zustande gekommen: Durch einen Zyklus, durch Beschleunigung. Andere Projekte dagegen erfordern ein anderes Tempo – sie benötigen eine längere Reifephase und brauchen deshalb Ruhe und Zeit. Man muss sich allein mit ihnen befassen, weite Strecken mit ihnen zurücklegen und mit ihnen zu Bett gehen.

 

Für 2019 stehen bereits einige sehr interessante Shows in aller Welt an, zunächst Soloausstellungen auf der Zona Maco in Mexico-Stadt und auf der ARCO Madrid, beide im Februar. Zudem freue ich mich auf einen dreimonatigen Aufenthalt in Peru, der im März beginnen wird. Das wird für mich eine wichtige Phase, in der ich mir Zeit nehmen kann, all das, was ich so schnell aufgenommen haben, zu verdauen und zu verarbeiten. Um wieder anzufangen, Neues auszuprobieren und zu experimentieren. Ich habe so viel im Kopf, dass ich es kaum erwarten kann, mich damit zu befassen. Bleiben Sie also am Ball!

 

Für weitere Informationen über Andrea Galvani und seine Arbeit besuchen Sie bitte andreagalvani.com.

 

Suzie Bliss ist Redakteurin im Global Content Team der Deutsche Bank Wealth Management.

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